Stuttgarter Zeitung vom 05.04.22 Fellbach & Rems-Murr-Kreis Seite I
Fellbach trauert um Friedrich-Wilhelm Kiel
Wenige Wochen vor seinem 88. Geburtstag ist der frühere Oberbürgermeister in der Nacht zum Montag verstorben. Der in Berlin geborene Liberale, für seinen Kunstsinn ebenso bekannt wie für eine ungeheure Schaffenskraft, hat unterm Kappelberg bleibende Spuren hinterlassen.
Von Sascha Schmierer
Dass eine Stadt niemals fertig wird, muss auch Friedrich-Wilhelm Kiel bewusst gewesen sein. Ausgeruht auf der Erkenntnis hat sich Fellbachs Alt-OB aber nie. Im Gegenteil: Seine Zeit im Rathaus nutzte der streitbare Liberale, um die Liste der wegweisenden Ideen mit ungeheurer Energie zu verkleinern. Wohin man auch blickt in Fellbach, man stößt auf die Spuren des bereits beim Abschied aus dem Amt zum Ehrenbürger ernannten Stadtoberhaupts.
Als Freund guter Architektur und standhafter Bauherr formte er aus dem dörflich-traditionell gestrickten Wengerterort nicht weniger als eine aufstrebende Stadt. Das zum Kulturdenkmal erhobene Rathaus ist ebenso untrennbar mit seiner 24-jährigen Amtszeit verknüpft wie der Bau des Stadttunnels oder der Verkehrsröhren durch den Kappelberg. Die Alte Kelter würde es als einen der außergewöhnlichsten Veranstaltungsorte in der Region ohne sein Engagement und sein Durchhaltevermögen sicher nicht geben.
Die Musikschule wäre wohl nicht in einem stadtbildprägenden Gebäude untergebracht, die neue Stadtbücherei vielleicht nie gebaut worden. Und ohne den als Kunstkenner bekannten Oberbürgermeister hätte sich Fellbach wohl weder eine Jugendkunstschule noch eine städtische Galerie geleistet.
Mehr noch: Ohne Friedrich-Wilhelm Kiel würde kein Mörike-Literaturpreis vergeben und auch kein europäischer Kultursommer gefeiert werden. Die Städtepartnerschaften mit Erba, Pécs und Meißen gehen maßgeblich auf seine Initiative zurück. Im Kosovo und dem westafrikanischen Togo hat Kiel mit großem persönlichen Einsatz geholfen. Und auch die Triennale für Kleinplastik, die alle drei Jahre den Namen der Stadt in alle Welt trägt, wäre ohne das Engagement des bekennenden Nicht-Schwaben wohl nie aus der Taufe gehoben worden.
Kurz: Hätte die Altersgrenze den auf Hochtouren laufenden Rathauschef nicht im Jahr 2000 nach drei Amtszeiten in den Ruhestand gezwungen, wären wohl noch mehr Projekte untrennbar mit seinem Namen verbunden worden. „Für Fellbach war Friedrich-Wilhelm Kiel ein absoluter Glücksfall“, schreibt Oberbürgermeisterin Gabriele Zull in einem Nachruf auf den Vorgänger. Denn der für die FDP von 1992 bis 2001 auch im Landtag vertretene Politiker, vom damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel mit der Verdienstmedaille des Landes ausgezeichnet, ist in der Nacht zum Montag wenige Wochen vor seinem 88. Geburtstag verstorben. Er hinterlässt seine Frau Gretel und drei erwachsene Kinder. Seine Nachfolgerin würdigt Kiel als ideenreichen Gestalter und zielstrebigen Schaffer. „Seine Leistungsbilanz ist faszinierend“, sagt Gabriele Zull.
Dabei war die kommunalpolitische Laufbahn bei dem am 17. Mai 1934 in Berlin-Charlottenburg geborenen Wahl-Fellbacher ursprünglich gar nicht vorgesehen. Geplant war eine Karriere im Schuldienst, in Karls-ruhe studierte er Physik, Mathematik und Sport. Als frischgebackener Studienrat unterrichtete Kiel von 1962 an vier Jahre lang in Ettlingen, bevor er sich zum Wechsel ins örtliche Rathaus entschied und Erster Bürgermeister wurde. 1970 wurde der in der Verwaltung für ein zwar hartes, aber stets ehrliches Regiment bekannte Pädagoge zum Bürgermeister in Pforzheim gewählt. 1976 bewarb er sich um den durch den Wechsel von Guntram Palm in die Landespolitik frei gewordenen OB-Sessel in Fellbach – und bewies nach der erfolgreichen Wahl nicht nur Leidenschaft und Schaffenskraft, sondern auch eine bemerkenswerte Volksnähe.
Wie beliebt Friedrich-Wilhelm Kiel als Rathauschef in Fellbach war, zeigte sich nicht nur an den Stimmergebnissen bei den OB-Wahlen der Jahre 1984 und 1992. Deutlich wurde die Anerkennung der Fellbacher auch nach dem Abschied in den Ruhestand. Neben der Förderung von Kunst und Kultur hatte sich Kiel vor allem mit seinem unermüdlichen Engagement gegen die Nord-Ost-Ring-Pläne bleibende Sympathien erworben, zu seinem 80. pflanzten die Gegner des Straßenbauprojekts sogar einen Walnussbaum zu seinen Ehren. Auch im Förderverein für den Besinnungsweg war der Alt-OB auch im Ruhestand noch eine treibende Kraft, der Landes-FDP war der überzeugte Liberale als einstiger Landesvorsitzender ohnehin weiter verbunden. Sein Nachfolger Michael Theurer spricht zum Tod von Kiel von einem „Graswurzeldemokrat und Liberalen mit Vorbildcharakter“ und erinnert an die bundesweite Wirkung, die etwa das 1994 beschlossene Fellbacher Modell im Wohnungsbau entfaltet hat.
Erst seit er dem Alter in den letzten Jahren spürbar Tribut zollen musste, hat sich Friedrich-Wilhelm Kiel weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Weil er schon den 85. Geburtstag lieber mit der Familie im Schwarzwald verbrachte als sich bei einem Empfang ehren zu lassen, hatte er mit seiner Nachfolgerin eigentlich einen Deal vereinbart: „Wenn ich 90 werde, hauen wir wieder richtig auf die Pauke!“, sagte Kiel damals. Dazu ist es jetzt nicht mehr gekommen.